Friedrichroda/Idaho. Ein 85-Jähriger, der schon lange in den USA lebt, beschreibt seine einschneidenden Erlebnisse 1945 in Friedrichroda.

Eberhard Boegelsack lebt in Idaho. Seine Thüringer Heimat hat er 1955 verlassen und ist nach Amerika ausgewandert. Doch sein Ursprung liegt in Friedrichroda und sein Interesse, an dem, was hier passiert, ist groß, weshalb er die TLZ im Internet liest. Jetzt hat Eberhard Boegelsack für diese Zeitung Ereignisse, die seine frühen Jahre prägten, aufgeschrieben:

Im April 1939 wurde ich in der Bahnhofstraße in Friedrichroda geboren. Der Krieg begann, als ich nur vier Monate alt war. Meine früheste Erinnerung reicht ins Jahr 1944 zurück. Da war ich fünf. In welchem Monat das, was ich nie vergessen konnte, passiert ist, weiß ich nicht. Es war an einem Abend und es war Zeit für mich, ins Bett zu gehen, als wir etliche Explosionen hörten. Wir wussten nicht, was geschehen war. Bis wir am nächsten Tag – meine Mutter, Großmutter und ich – zur Damm-Mühle gingen und uns einige Bombenkrater anschauten. Es wurde gesagt, dass ein Fenster nicht richtig verdunkelt gewesen war. Damals im Krieg mussten alle Fenster mit schwarzen Vorhängen oder Rollos lichtdicht sein. Nachts wurden die Straßen auf Lichtquellen patrouilliert.

Unterwegs mit dem Vater, der bald darauf fällt

Im Frühjahr 1944 gingen meine Mutter und ich in die Stadt. Als wir an der Kreuzung Marienstraße, Bahnhofstraße und Lindenstraße waren, hörten wir aufheulende Motorengeräusche, die immer lauter wurden. Bald erschien ein viermotoriger, brennender amerikanischer Bomber, der noch über die Stadt flog und dann am Fuße des Körnbergs, nahe dem Försterhaus, aufschlug. Mein Vater, der gerade auf Urlaub zu Hause war, ging mit mir am nächsten Tag zur Absturzstelle. Es war alles abgesperrt, aber wir sahen die Motoren und einige Flugzeugteile, die noch etwas rauchten.

Meine nächste Erinnerung betrifft den persönlichen Besuch des Bürgermeisters – war es Herr Barth? – bei uns, der sein Beileid über meinen im Krieg gefallenen Vater aussprach.

Dann kam der Bombenangriff am 6. Februar 1945. Es war ein sonniger Morgen, als wir weit oben am Himmel Motorengeräusche und weiße Kondensstreifen sahen. Die Bomber flogen gen Osten. Und wir dachten, dass sie uns nichts antun würden. Was wir nicht wussten, war, dass es noch viele andere Verbände mit anderen Zielen gab. Kurze Zeit später heulte die Sirene. Das war das Signal, in den Luftschutzkeller zu gehen. Wir erreichten ihn aber nicht mehr und suchten unterwegs Schutz. Es gab heftige Explosionen, welche immer näher zu uns kamen. Das Heulen der fallenden Bomben wurde lauter und die Erde bebte. Fenster und Türen flogen um uns herum und der Putz von Decke und Wänden ging ab. Meine Mutter drehte mich um und drückte mein Gesicht gegen ihren Bauch, um meine Augen zu schützen. Nach dem Angriff gingen wir auf die Straße: Ich sah die Bombenkrater, eine Wasserfontäne, Schutt und Verwüstung überall.

Von der beschädigten Wohnung aus war der Himmel zu sehen

Die Straße war nicht passierbar, aber unsere Wohnung stand noch. Sie war so beschädigt, dass sie unbewohnbar war. Das Dach und die Decke hatten ein großes Loch zum blauen Himmel. Wir gingen zu meinen Großeltern, die in der Marienstraße wohnten, da diese Gegend unbeschädigt war. Meine Oma hatte die ganze Bombardierung vom zweiten Stock ihrer Wohnung beobachtet und war erstaunt, dass wir noch am Leben waren. Wir sind zu meinen Großeltern gezogen und unsere Habe, darunter unbeschädigte Möbel, wurden aus der Bahnhofstraße zu meine Großeltern gebracht. Von der Zeit an rannte die Bevölkerung, wenn die Sirene erklang, zum nächsten Wald, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Es gab noch einige Luftschlachten, wobei manche Flugzeuge abstürzten, und es gab viele Geschosse, die wild durch die Luft flogen. Eine Kugel kam durch die Wände und schlug dicht über den Kopf meines Großvaters durch das Haus.

Zu dieser Zeit wollte meine Mutter zum Laden gehen, als sie ein Flugzeug hörte, welches ein komisches Motorengeräusch machte. Es war kein anderer Mensch auf der Straße. Sie sah einen Türeingang und trat dort ein. In dem Moment schlugen Geschosse nur circa einen Meter von ihr entfernt auf den Bürgersteig ein. Bleich und zitternd kam sie sofort zu uns zurück.

Ich erinnere mich genau an die Zeit der amerikanischen Eroberung kurz nach meinem sechsten Geburtstag. Erst hörten wir Gefechtsgeräusche aus weiter Ferne. Jeden Tag kamen die Geräusche näher und eines Tages wurden wir aufgefordert, weiße Bettlaken aus den Fenstern zu hängen – ein Zeichen, dass wir kapituliert hatten. Kurz danach kam ein deutsches Lautsprecherauto – und uns wurde befohlen, die Bettlaken sofort wieder reinzuholen, was wir auch machten. Dann kam der Befehl, die Laken sofort wieder rauszuhängen, um den angedrohten amerikanischen Artilleriebeschuss des Ortes zu verhindern. Danach kam der Einzug der Amerikaner.

Von amerikanischen Soldaten gab es unbekannte Süßigkeiten

Am nächsten Tag mussten alle Einwohner ihre Häuser unverschlossen verlassen und sich auf dem Wilhelmplatz zu sammeln. Zu der Zeit durchsuchten die Soldaten den ganzen Ort. Wir standen einige Stunden im Park. Nach einer Weile hörten wir wieder heftige Explosionen ganz in unserer Nähe, denn das alte Kurhaus wurde gesprengt. Dann kam die Erlaubnis, nach Hause zu gehen. Abends hatten wir Ausgangsverbote. Die amerikanischen Soldaten waren freundlich und gaben uns Kindern Süßigkeiten, welche wir nicht kannten. Es wurde nun ein besseres Leben ohne Angstgefühle, aber leider dauerte das nur ein paar Monate.

Schon im Sommer 1945 wohnten wir nach Abzug der amerikanischen Soldaten in der sowjetischen Besatzungszone. Die Russen beschlagnahmten alles, was sie wollten, unter anderem große Maschinen und Geräte aus einer Möbelfa­brik. Der Friedrichrodaer Bahnhof wurde zur Endstation, weil die Schienen und alles Dazugehörige als Entschädigung nach Russland transportiert wurden. Zwischen Reinhardsbrunn und Friedrichroda ist ein Tunnel. Die entfernten Maschinen und anderes aus den Fabriken wurden mit großen Anstrengungen zum Bahnhof geschleppt und dort auf flache Güterwagen geladen. Manche Sachen waren zu breit, um durch den Tunnel zu kommen. Sie wurden zurückgebracht und auf ein Seitengleis gestellt, wo sie ungeschützt jahrelang im Freien verrosteten!

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Eigentlich sollte ich jetzt eingeschult werden. Aber es ging nicht zur gewöhnlichen Zeit los, da keine Lehrer, Bücher und andere Schulmaterialien zu finden waren. Erst am 1. Dezember kam endlich kam der Schulanfang. Wir hatten kein Papier und lernten auf einer Schiefertafel mit einem Griffel das Schreiben. Auch die Zuckertüte war sehr spärlich. Hungrig waren wir immer, aber wir waren noch am Leben und daher dankbar für jedes kleine Nahrungsstückchen.

Das sind meine Erinnerungen an das Ende des Krieges – und ich hoffe, dass es niemals wieder zu solchen Verhältnissen kommt.

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